Fallstricke in der Lebensmitte – So vermeiden wir sie

 Beate Kohlmeyer|Allgemein|21. September 2019

„Kinder, wie die Zeit vergeht!“

Am 16.9.2017 ist im wundervollen  Compassioner mein erster Artikel erschienen, indem ich dazu eingeladen habe, die Lebensmitte zu feiern. Damals war ich 19273 Tage auf dieser Welt und bereit, alles Gute, Schöne, Wahre zu empfangen.  Zwei Monate später erhielt ich die Diagnose Brustkrebs. Seither habe ich euch allmonatlich berichtet über meine Reise, mein Ringen inklusive der Fallstricke des Lebens, meinen Willen zur Versöhnlichkeit und meine Sinnsuche.


„Die Suche geht weiter. Ich will dir nur sagen, ich will, dass du weißt

Die Suche geht weiter

Wenn wir kurz halten

Dann nur, um zu sehen,

dass der Weg, den wir gehen, schön und doch steil ist,

ein Stück nur vom Teil ist.

Die Suche geht weiter – Nach vorn.“

Rosenstolz


Weichenstellung in der Lebensmitte

Inzwischen bin ich 20008 Tage auf dieser Welt. In diesen 735 Tagen geschenkten Lebens, sind mir einige Fallstricke und einige Wunder begegnet. Eins wurde mir sehr klar während der letzten zwei Jahre. Es bedarf sicher keiner lebensbedrohlichen Diagnose, um in der Lebensmitte etwas Wichtiges festzustellen.

Nämlich dass wir die zweite Hälfte des Lebens nicht nach dem Muster der ersten leben können. Viele von uns begreifen diese  Tatsache erst durch eine Krise, die schmerzhaft, aber auch heilsam sein kann. Immer öfter berichten Freunde und Klienten von ihren Problemen. Sie erzählen mir, wie schwer es Ihnen fällt, sich den veränderten Umständen der Lebensmitte anzupassen.

Spätestens in den Wechseljahren hinterfragen wir, ob wir mit unserem bisherigen Leben wirklich zufrieden waren

Grund genug, diesen Adaptionsprozess im Alter einmal unter die Lupe zu nehmen. Die bestmögliche Weichenstellung zu initiieren.

 Schließlich bahnt sich in jedem von uns, früher oder später, eine biochemische Revolution an. 

Das Ärzteblatt spricht in diesem Zusammenhang von einer Lebensphase der psychosozialen Adaption. Sie beinhaltet Abschiede, neue Herausforderungen und notwendige Aktivierung von Ressourcen.

Es stimmt: Unser Erleben von Abschied ist in diesen Jahren vielfältig. Wir nehmen Abschied von den Eltern, die Kinder gehen aus dem Haus, körperliche Veränderungen und Einbußen ziehen in unser Haus ein. Es findet durch hormonelle Veränderungen ein tiefgreifender Wandel statt. Wir stellen fest, dass wir das Leben und die Zukunft nicht kontrollieren können. Nichts ist restlos sicher. Immer wieder lauern Fallstricke. Wir spüren unsere Fragilität und ahnen, dass nicht jedes Leiden heilbar ist; Gesundheit nicht selbstverständlich und überall wieder herstellbar ist.

Bilanzierung zur Halbzeit

Viele von uns erleben diesen Übergang als eine Phase der Selbstprüfung und Neubewertung. Wir denken über unsere Identität und über unsere Rollen nach. Wir realisieren, dass auch unser Zeitfenster kleiner wird. Ziele und Bedürfnisse werden in der Folge neu justiert.

  • Habe ich das Leben, was ich Leben wollte?
  • Mache ich das, was ich machen wollte?
  • Wo ist mein Platz in diesem Leben?

In der Lebensmitte ist beim Bilanzieren schonungslose Ehrlichkeit uns selbst gegenüber gefragt

Wir bilanzieren. Und das ist gut so. Psychologische Studien zeigen, dass Lebensbilanzierungen in den mittleren Jahren für die meisten von uns unumgänglich sind. 

Wir sind aufgerufen, in uns hineinzuhorchen. Schonungslos ehrlich zu uns selbst zus ein.

 Nur während wir innehalten, können wir herausfinden, wo die Reise von hier aus hingehen soll. Was unsere individuelle Qualität im Leben ausmacht.

Hinterfragen des Bisherigen

  • Sind meine ursprünglichen Lebensentwürfe realisiert?
  • Gibt es eine Diskrepanz zwischen der Lebensvorstellung und der Realität?
  • Gibt es unterdrückte Aspekte, Träume , unerreichte Ziele, die nach Realisierung drängen?
  • Bin ich mit meiner Biografie im Reinen?

Abschied vom uneingeschränkten Optimismus

Indem wir uns diesen Fragen stellen, übernehmen wir Verantwortung für wichtige Entwicklungsaufgaben unseres biografischen Übergangs. Auf diese Weise können wir bewusst gewohnte Rollen verlassen. Es ist möglich, eine Reorganisation unseres Lebens vorzunehmen. Auf meiner persönlichen Reise habe ich auf diese Weise ganz neue Aspekte und Perspektiven entdeckt, die mir wohltun. Ich habe der unkritischen Verehrung des grenzenlosen Optimismus abgeschworen. Zuweilen scheint es mir sehr heilsam zu sein, widrige Umstände zu akzeptieren. Der Kult der Machbarkeit birgt Gefahren und Fallstricke. Zum Beispiel, die Gabe zu verlieren, sich mit dem zu arrangieren, was unveränderbar ist. Oder den bestmöglichen Weg innerhalb der gegebenen Umstände zu finden. Ich habe in diesem Zusammenhang oft an den amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr denken müssen:

Gott, gib mir die Gelassenheit,

Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,

den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann.

Und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.


Fallstricke als kritische Fragesteller

Die Krebserkrankung während der Wechseljahre hat mich gewissermaßen im doppelten Sinne daran erinnert, dass das Leben endlich ist. Sofort spürte ich die drängende Frage nach den Qualitäten meines Individuellen Lebens.

  • Welche sollten das sein?
  • Was könnte mich jetzt stärken?
  • Welche Dinge sind mir wirklich, wirklich wichtig?
  • Woraus schöpfe ich die größte Freude, den tiefsten Sinn?

Mich hat das Erspüren der Antworten entlastet und überrascht zugleich. Vorbei das Streben nach Selbstoptimierung. Adieu zur Vorstellung, meinem Lebensbaum fehle noch die Krone der Entfaltung. Hurra und herein mit dir, du tägliche Freude über einen neuen Tag! Über jede Begegnung, liebevolle Geste, kulinarische Umarmung. Ein Hoch auf das Mittelgebirge und jeden Schritt, den ich aufrecht darin machen kann.Eine süße Träne für meine Kinder, die mir sagen, wie sehr sie mich lieben. Und eine Streicheleinheit für meine Therapeuten Yussi und Smilla. Sie schnurren mir jeden Tag den schweren Mut aus dem Herz. All das ist es, was meinem Leben die Krone aufsetzt.

Das ist es, was mich mit Sinn erfüllt! 


Und für den Fall, dass dunkle Wolken aufziehen, konzentriere ich mich auf genau diese Qualitäten: alles Positive, welches das Leben zu bieten hat. Und ich werde lernen, die negativen Einbußen zu akzeptieren und es aushalten, öfter krank zu sein und mir den Rest des Lebens davon nicht vermasseln lassen.

Ich werde an den gebrochenen Stellen stark werden!

Verbunden grüßt euch,

eure Beate

Heilpraktikerin für Psychotherapie